Spielleiten unter den 8 (nein, 9!) Sonnen

Gastbeitrag von Frank Reiss

Nachdem ich gestern ja schon über Invisible Sun gebloggt habe, war Frank so nett, mir noch ein paar Worte dazu zu schicken, wie er als Spielleiter das System empfunden hat. Und da er sich genauso wenig kurzfassen kann wie ich (haha!), packe ich das einfach mal ein einen eigenen Artikel.

Lena hat ja schon einen sehr guten Überblick über das Spielsystem und die Runde gegeben, so dass ich mich hier vor allem auf meinen Part als Spielleitung beschränken möchte.

Vielleicht aber doch noch ein paar Worte zur Aufmachung des Spiels: Es ist wirklich beeindruckend, wie liebevoll und detailliert das gesamte Spiel aufgemacht ist. Der Preis ist wirklich eine Hausnummer und man kann zurecht bemängeln, dass deshalb viele Leute nicht in den Genuss kommen können, dieses Spiel jemals zu spielen – es ist am Ende ein Luxusprodukt.

Aus Sicht der Spielleitung bedeutet Invisible Sun zu Beginn vor allem erstmal eins: Sehr viel Vorbereitung! Dabei hat es mir großen Spaß gemacht, die atmosphärisch geschriebenen Texte zu lesen, durch die vier großartig gelayouteten und illustrieren Bücher zu blättern und mir die abgedrehte und surreale Spielwelt nach und nach zu erschließen – und ich bin weit davon entfernt, auch nur einen Großteil des Materials gelesen zu haben. Was nicht hilft ist die Tatsache, dass nahezu alles, was man zum Spielen benötigt, fast schon wahllos über die vier Regelbücher verteilt ist. Dass die Bücher auch noch kryptische Titel (The Way, The Key, The Gate, The Path) haben, die kaum auf den Inhalt schließen lassen, macht es nicht besser. Es hätte bestimmt Möglichkeiten gegeben, Inhalte etwas sinnvoller zu gruppieren. Immerhin gibt es aber in den Büchern durchgehend eine Spalte mit Seitenverweisen zu erwähnten Begriffen/Regelmechanismen, sodass man diese schnell nachschlagen kann.

Die Regeln

Der Schwarze Würfel – 15 Kilo schwer.

Letztendlich funktioniert Invisible Sun wie ein grundlegend aufgebohrtes und stark erweitertes Cypher System. Meine Erfahrung mit Numenera hat schon etwas geholfen, die Grundmechaniken schnell zu verstehen, auch wenn hier einiges sehr anders funktioniert – Schaden wird zum Beispiel nicht mehr über die Stat-Pools geregelt, und es wird mit einem W10 direkt auf den Zielwert gewürfelt, anstatt mit einem W20. Wenn man diese grundlegenden Abläufe verstanden hat, hat man aber eigentlich alles, was man braucht. Eigentlich, denn durch die verschiedenen Magiesysteme der Orden gibt es eine Menge Subsysteme. Das Gute: Keines der Subsysteme weicht von der grundlegende Probenmechanik ab. Das Herausfordernde: Über alles einen zumindest groben Überblick zu bekommen. Ich habe das Einlesen in die Magiesysteme der Orden an die jeweiligen Spieler*innen delegiert, was sehr gut geklappt hat.

Interessant ist im Übrigen: Während das System unzählige Optionen und Verfeinerungen für den Charakterbau und die Charakterentwicklung bereithält – viele davon sind bei Charaktererschaffung irrelevant – , ist der Rest des Regelwerks und vor allem das, was man als SL so wissen muss, sehr schlank und geradlinig. Das war beim Cypher System auch schon so und setzt sich hier fort. Die regelseitige Hauptaufgabe für die Spielleitung besteht darin, Level für NSCs, Effekte und Ereignisse festzulegen, sodass klar ist, wie schwer eine Herausforderung ist. Das befreit von unnötiger Buchhaltung und lässt Platz im Kopf für die Handlung, man muss während des Spiels eigentlich kaum mal etwas nachschlagen.

Das Setting

Monte Cook und sein Team haben mit sehr viel Liebe zum Detail eine Welt geschaffen, die von realweltlichem Okkultismus und Mythen inspiriert ist, am Ende aber etwas völlig Eigenes und fast schon verstörend Fremdartiges an sich hat. Dabei merkt man schon dem Schreibstil an, dass alles bewusst vage, verwirrend und teilweise widersprüchlich geschrieben ist. Es braucht eine Weile, sich darauf einzulassen, aber dadurch wird der Stil des Settings sehr gut deutlich: Nahezu alles ist möglich, Magie ist allgegenwärtig, je surrealer, desto besser. Orte, NSCs und die grundlegenden Fundamente der Spielwelt werden angerissen, es werden Fragen aufgeworfen, aber nicht beantwortet, es wird inspiriert, aber nicht erklärt. Darauf muss man sich einlassen können. Es geht in dem Setting aber auch gar nicht darum, das Bild einer kohärenten, in sich geschlossenen Spielwelt zu zeichnen, sondern es geht mehr darum, einen Eindruck davon zu vermitteln, wie sich die Spielwelt anfühlt. Und das gelingt mit den vielen Beispiel-NSCs, den Orten, den Namen und den Illustrationen wirklich sehr gut.

Mir persönlich gefällt der Ansatz. Ich denke mir gerne seltsame Charakter und Örtlichkeiten aus. Ich brauche keine detaillierte Beschreibung jedes einzelnen Stadtteils einer Metropole, solange die Stimmung klar ist, die dort herrschen soll. So sehen auch die Beschreibungen der Orte in Invisible Sun aus: Man erfährt in wenigen Sätzen etwas zu einem Ort und seinen Bewohner*innen. Es bleibt alles sehr kryptisch und vage, aber es transportiert einen Eindruck davon, wie sich jener Ort anfühlt und lässt viel Raum, um ihn für die eigene Erzählung anzupassen.

Eine Spielsitzung planen

Nachdem wir in unseren zwei vorbereitende Skype-Sessions die Charaktere soweit vorbereitet haben, war es dann meine Aufgabe, mich auf den eigentlichen Spielabend vorzubereiten. Das SL-Kapitel des Regelwerks hat sich dabei als sehr hilfreich erwiesen. Die wichtigste Grundregel lautet: Die Spieler*innen sitzen hinterm Steuer! Das bedeutet, dass sich Erzählungen in Invisible Sun schwerpunktmäßig um die Charaktere drehen sollen. Es soll keinen von Seiten der Spielleitung initiierte Hauptplot geben, alles dreht sich um die Character Arcs. Aufgabe der Spielleitung ist es viel mehr, Orte, NSCs und Herausforderungen zur Verfügung zu stellen und dann darauf zu reagieren, was die Gruppe damit anstellt. Es wird explizit davon abgeraten, ganze Plots vorzubereiten. Stattdessen schlagen die Autor*innen vor, interessante Szenen, Locations und Personen zu erfinden und sie dann spontan im Spiel passend zur sich entwickelnden Handlung einfließen zu lassen.

Daran wird schon deutlich: Hier ist Improvisieren angesagt. Das heißt nicht, dass ich mich nicht oder nur wenig habe vorbereiten müssen. Gerade bei einem solch ungewöhnlichen Setting lässt sich nur schwer etwas improvisieren, ohne irgendwas über die Welt gelesen zu haben. Also bestand meine Vorbereitung in erster Linie darin, mir weiteres Settingmaterial anzuschauen und die gemeinsam erarbeiteten Nachbarschaften und Charakterziele der Spielgruppe auf Ideen für einen Abenteuereinstieg abzuklappern. Bei der großen Anzahl an coolen Ideen, die wir gemeinsam im Vorfeld in der Session Zero entwickelt haben, war das zum Glück kein Problem.

Die eigentliche Spielsitzung

Unser Path of Suns der Spielrunde.

Um einen irgendwie gearteten Einstieg zu ermöglichen, ließ ich zu Beginn der Runde eine Handelskarawane im Stadtteil der Gruppe auftauchen. Das war das Einzige, was ich vorgeplant hatte. Zu Beginn jeder Szene zieht man dann eine Karte vom Sooth-Deck, die als Inspiration für die fortschreitende Handlung dienen kann. Ich hatte mir vorgenommen, mich tatsächlich recht stark von den Karten in Kombination mit den Zielen der Charaktere leiten zu lassen. Wie Lena schon erwähnt hat, haben wir uns dann auf die Geschichte um den Schakal fokussiert. Die erste Sooth-Deck-Karte deutete eine lauernde Bedrohung an – also sollte es einen Überfall auf die Handelskarawane geben. Auch im weiteren Verlauf der Handlung habe ich immer wieder spontan Dinge aufgrund gezogener Karten passieren lassen: Die Falle in dem Tunnel mit den Herzwürmern beispielsweise, oder eine dritte Partei, die dasselbe Ziel wie die Gruppe und ihre Widersacherin hatte und dem Finale eine Wendung gab.

Alles in allem hat das gut funktioniert, auch wenn es zeitweise anstrengend war, so gar nicht genau zu wissen, wohin die Geschichte sich entwickeln wird. Hier hat sich die Setting-Recherche definitiv ausgezahlt: Über die Satyrine-Rail, den Zug, der die gesamte Stadt durchquert, oder den Stadtteil Palindrome gelesen zu haben, hat es überhaupt erst möglich gemacht, diese Orte ins Spiel einzubauen. Das Wissen um das Wesen der Engel in der Actuality hat dabei geholfen eine solche Kreatur darzustellen, als die Goetic der Gruppe eine Beschwörung durchgeführt hat. Auch waren die vielen Beispiel-NSCs mit ihren surrealen Macken und ihrem fremdartigen Aussehen eine gute Inspiration für Figuren, die ich spontan ins Spiel eingebaut habe.

Ein weiteres Element, was eine sorgfältige Planung ohnehin überflüssig machen würde, sind die zufällig gezogenen Zauber und Gegenstände (Ephemera), die der Gruppe zur Verfügung stehen. Manche Effekte sind derart spielverändernd, dass sie z. B. lang geplante Reisesequenzen oder einen Endkampf gegen einen Schurken mit einer Handlung komplett umwerfen können. Auch das ist ein beabsichtigter Effekt, man sollte sich deshalb nicht zu sehr in seine Plotideen und NSCs verlieben.

Spielleitungs-Fazit

Invisible Sun macht großen Spaß! Das surreale Setting, die vielen Möglichkeiten, spontan abgedrehte Ideen ins Spiel einzubauen, der Fokus auf die Charaktere, das alles macht es leicht, Geschichten zu improvisieren. Und gleichzeitig erfordert das Spiel, dass man sich mit dem Setting, der Stimmung, die es transportieren will und natürlich auch den Regeln beschäftigt. Es ist – auch das hat Lena schon geschrieben – kein Spiel für eine Con oder einen Oneshot. Eine Kampagne hingegen wird durch die Character Arcs und die vielen, vielen Plotaufhänger, die man schon vor dem Spiel gemeinsam generiert, fast zum Selbstläufer. Es braucht keine weltumspannenden Metaplots und keine vorgefertigten, mehrteiligen Abenteuerszenarien. Das ist eigentlich das Schöne: Sind die Charaktere und ihre Nachbarschaften einmal erstellt, macht das eigentliche Spiel viel weniger Arbeit als so manche vorgeschriebene Kampagne in anderen Systemen. Ich freue mich jedenfalls sehr darauf, Doria, Zahadi, Garibaldo und Valcrys wiederzutreffen und gemeinsam mit der Gruppe herauszufinden, wohin ihre Eskapaden sie das nächste Mal führen werden.


Vielen Dank an Frank für den ausführlichen Bericht! Ich hoffe, jetzt sind wirklich alle Fragen zum Thema Invisible Sun beantwortet – wenn nicht, lasst gerne einen Kommentar da.

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Eingeordnet unter Mediengedöhns, Rezension, Rollenspiel

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